Samstag, 26. Mai 2007

"Leipziger Allerlei" – eine Stadtbesichtigung und die "Entvölkerung" Ostdeutschlands

Ende April 2007 ich bin ich zu Fuß durch Leipizig marschiert, habe Fotos geschossen und mir dabei meine Gedanken gemacht. Die Links zu den Fotos und einer ausgewählten Fotoserie mit Kommentare befinden sich am Ende des Artikels.

Am 22. und 23. Mai ging ein lauer Wind durch die deutsche Medienlandschaft, man kann es aber auch als einen "Furz" bezeichnen (ich bitte um Entschuldigung). Das Statistische Bundesamt hatte wieder einmal Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung bis 2050, mit Schwerpunkt Ost-/Westproblematik, veröffentlicht. Die Masse der Medien gibt die Prognosen vollkommen unreflektiert, aufgeblasen und marktschreierisch verpackt - eben als "F..." - wieder: "Der Osten entvölkert sich ... Rückgang bis 2050 von 31% ...!“ Nur wenige, kleine Publikationen aus dem Osten stiegen etwas tiefer in das Thema ein.

So z.B. Die SVZ-Online - Schweriner Volkszeitung: "„Das Landleben stirbt“ sagt Frank Wulff, Sachbearbeiter im Bauamt der Gemeinde Arendsee. Einige Orte der Altmark, einem von der Natur verwöhntem Landstrich nördlich von Magdeburg an der Elbe, werde es schon bald nicht mehr geben: „Da stehen dann nur noch Schilder – Wüstungen nennt man das.“ Wulff weiß wovon er spricht. ... Die frei gewordenen Flächen böten dann Platz für heute dort ausgestorbene Tiere: „Nach dem Mensch kommt der Wolf“, so die Überschrift des entsprechenden Kapitels einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (BI). ... Aus Arendsee sind laut Wulff vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten verschwunden. „Die was drauf hatten, sind weg – da kommt auch nichts mehr nach“, sagt er.

Elvira Freyse aus dem wenige Kilometer südlich gelegenen Ort Bismark kennt das nur zu gut. Keine ihrer drei Töchter ist in der Region geblieben. Arbeit fanden sie in Berlin, Hannover und Magdeburg. Ebenso sei es bei den Kindern von Freunden und Bekannten: „Von rund 100 sind 90 weg.“ Weil die Jüngeren fehlen, verfalle der Ort mehr und mehr. „Über 2000 Schulen haben im Osten seit der Wende schon dicht gemacht“, so Reiner Klingholz, Leiter des BI.

"Alte" Zahlen vom Statistischen Landesamt Niedersachsen: Die Einwohnerzahl des Landkreises Osterode sank zwischen 1995 und 2004 um 7,1 Prozent, die des Kreises Holzminden um 5,5 Prozent. Dabei liegen einzelne Kommunen noch erheblich über dem Durchschnitt. Die Stadt Bad Grund (Kreis Osterode) zum Beispiel büßte rund 18 Prozent ihrer Einwohner ein, die Gemeinde Marienthal im früheren Zonenrandgebiet des Kreises Helmstedt kommt sogar auf ein Minus von 23,4 Prozent. Wie sich das die letzten drei Jahre weiterentwickelt hat, kann man sich denken. Zu diesem Thema passen meine Eindrücke und Erfahrungen, die ich kürzlich in Leipzig gemacht habe.
A
m Mittwoch, den 25. April 2007 hatte ich ca. 2 Stunden Zeit für eine Stadtbesichtigung in Leipzig. Am Franz-List Platz startete ich so gegen 10:00 Uhr zu Fuß. Besonders beeindruckend der Hauptbahnhof - hier sieht man wo der "Soli" hin geflossen ist! Aber Leipzig ist, wie viele andere Orte der ehemaligen DDR voller Kontraste. Deshalb nenne ich die Bilderserie (Link s.u.) auch "Leipziger Allerlei".

Man kann von dem gleichen Standpunkt aus, die super restaurierten Bahnhofsgebäude, das Hochhaus am Willy-Brandt-Platz (hieß der früher Walter-Ulbricht-Platz?) sowie total verwahrloste und verlassene Gebäude sehen. Vor dem Turm des MDR ein Abrisshaus - der "Soli" fließt weiter.

Leipzig hatte vor der Wende weit über 100.000 Arbeitsplätze in der Produktion. Heute sind es noch etwas über 10.000 - und das trotz BMW, Porsche, Quelle/Karstadt und Amazon. Amazon zum Beispiel prognostiziert, dass einmal 400 (in Worten "vierhundert") feste Arbeitsplätze am Standort in dem riesigen Logistikzentrum entstehen sollen! Bei den anderen aufgeführten Unternehmen sieht es nicht viel anders aus. Der arbeitsfähige Teil der Bevölkerung, der flexibel ist, hat die "blühenden Lande" längst verlassen. Zurückgeblieben sind Alte, Kranke und Harz-IV-Empfänger.

Die Nikolai-Kirche und -Säule, der Ausgangspunkt der Proteste und Demonstrationen, die schließlich zum Zusammenbruch des gesamten kommunistischen Systems führten. Meine Hochachtung und Anerkennung für alle „Mutigen der ersten Stunde“. Das Kreuz im Fenster der Kirche vom Dezember 2006, erinnert an den GI Dustin R. aus Texas, der in Bagdad gefallen ist. "Give peace a chance", die Überschrift – hat der Einsatz den Frieden auf der Welt voran gebracht? Das Innere der Kirche sehr imposant - beeindruckend die Helligkeit und Offenheit, unterstützt durch die vorherrschende Farbe Weiß. Vor der Kirche eine Plakat mit der Aufschrift: "Wieviel Arbeit braucht der Mensch?" Daneben der Akkordeon Spieler kann sie vielleicht beantworten. Gegenüber im "Zeitgeschichtliche Forum" eine umfassende Dokumentation der jüngeren deutschen Geschichte zu den Themen Teilung, Diktatur, Widerstand und Einheit. Ein Besuch ist sehr empfehlenswert, aber warum man nicht fotografieren darf, konnte mir niemand wirklich erklären.

Neben der alten Handelsbörse am Markt steht stolz, Johann Wolfgang von Goethe und nicht weit weg davon, wieder ein sehr schön renovierter Altbau mit Dachterrasse. Aber direkt gegenüber, der Blick durch eine schönes altes Tor aus Schmiedeeisen – Verfall ... . Eine tolle Idee die bunten Fassaden im Bereich des Forums für bildende Künste. Auf dem Weg zurück zum Ausgangspunkt noch der renovierungsbedürftige "Bayerische Hof" und das totale Kontrastprogramm zwischen High-Tec und Ruine gleich um die Ecke am Franz-List-Platz.

Bedrückend ist der extreme Unterschied, Aufbau Ost neben Hoffnungslosigkeit und daraus teilweise resultierend, der Frust der gebliebenen Einwohner. Die "Leipziger Internet Zeitung" vom 22. Mai 2007: "69 % der Volkmarsdorfer müssen mit weniger als 800 Euro im Monat auskommen. Zum Vergleich: Der Leipziger Durchschnitt liegt bei 38 %. 40 % der Volkmarsdorfer leben von ALG II."

In manchen Regionen nimmt dagegen der Leerstand von Gebäuden beängstigende Formen an. In Sachsen-Anhalt sollen 230.000 Wohnungen unbewohnt sein, ein Sechstel des gesamten Bestandes. Ich kenne die Situation z.B. in der kleinen Kreisstadt Zeitz aus eigener Anschauung. Die Bevölkerung in Zeitz hat sich seit der Wende halbiert, wobei sie durch Eingemeindungen nach der Wende noch vergrößert worden war. Damit stehen dort weit über 40% der Wohnungen leer und zerfallen bzw. sind zum Großteil schon unbewohnbar.

Das Szenario der Statistik für 2050 ist das Papier nicht wert auf dem es gedruckt wurde, da die reale Welt es teilweise schon weit überholt hat. Dadurch, dass in erster Linie die gut ausgebildeten jungen Leute zwischen 18 und 35 - und damit der Bevölkerungsteil im gebährfähigen Alter - abgewandert sind und weiterhin dem Osten - und teilweise auch Deutschland - den Rücken kehren, wird die "Entvölkerung" weiter beschleunigt. Lothar Eichhorn vom Statistischen Landesamt Niedersachsen: „Das Problem ist, dass dadurch auch die Infrastruktur leidet. Irgendwann ist die Schule oder das Schwimmbad einfach nicht mehr zu halten.“ ... „Das hat ja auch Vorteile. Dann geben wir eben der Natur etwas mehr Raum.“ ... Ist das eine Strategie für die Zukunft?

Wenn ich so etwas höre denke ich an die eingangs erwähnten Begriffe und Zitate: "Wüstungen", "Nach dem Mensch kommt der Wolf" ..., das kann es doch wohl nicht sein! Nach meiner Meinung braucht es einen radikalen Wandel im Förderkonzept. Die massiven Investitionen in die Infrastruktur haben nur kurzzeitig Arbeitsplätze in der Aufbauphase geschaffen. Es gibt jetzt modernste Kommunikationstechnologie (Glasfasenetz ...) und Verkehrssysteme die niemand braucht. Mein Vorschlag ist, dass jeder Unternehmer, der einen langfristigen, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplatz schafft, dafür von der Steuer befreit wird.

Wenn es nicht gelingt, wieder signifikant Arbeitsplätze zu schaffen, werden die "blühenden Lande" in absehbarer Zeit, und nicht erst 2050, "menschenleere Lande" sein - es wäre schade!

Links Bilderserie und Fotoalbum:

http://home.arcor.de/lreeg/
http://picasaweb.google.de/Lothar.Reeg

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